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der soziologie.ch blog

Unsere Blogs wenden sich dem Absurden und Alltäglichen, dem Erfreulichen und Erstaunlichem, dem Politschen und Profanen zu. Unsere AutorInnen sind Soz-Studis und solche, die's mal waren.




Ungleichheit - der (nicht mehr ganz) neue Widerspuch

von chris

Was ist eine Klasse? Oder: wäre Schicht ein besserer Begriff, um Strukturen (post-)industrieller Gesellschaften zu beschreiben? Oder müsste man stattdessen von Konsummustern, von Milieu und Lebenstil sprechen? Diese Diskussion ist für die Soziologie nicht neu, aber nichtsdestotrotz zentral. Im nicht mehr ganz neuen WIDERSPRUCH Heft 52 bildet der Begriff der Klasse für die meisten Autorinnen den Ausgangspunkt. Im Mittelpunkt stehen ökonomische Ungleichheiten, die auf dem Arbeitsmarkt entstehen.

René Levy (S. 45-58, mit einer lohnenswerten Literaturliste) nimmt sich der Ungleichheitsdiskussion in der Soziologie in systematischer Weise an. Nach den Fragen, wie Ungleichheit gemessen werden kann, und welches ihre Folgen sind, diskutiert er Defizite der neueren Konzepte, die in den letzten Jahrzehnten die Klassenkonzepte zu ersetzen suchten. Wenn Ungleichheitstheorien sich nur mässig gut empirisch bestätigen lassen, dann liegt das gemäss Levy auch an einer bestimmten Schwäche: an der Vernachlässigung der Mesoebene. Datensätze, die z.B. Individuen aus verschiedenen Teilen eines Landes aggregieren, vernachlässigen ungleichheitsrelevante institutionelle Unterschiede – gerade wenn man ein föderalistisches Land wie die Schweiz betrachtet.

Die beiden folgenden Beiträge machen dann genau das: sie versuchen ein Bild der Klassenstruktur in der Schweiz zu zeichnen. Das von Goldthorpe abgewandelte Schema, das Daniel Oesch (S. 59-74) benützt, verortet Beschäftigte entlang von zwei Dimensionen im Klassengefüge. Die erste Dimension erfasst deren Qualifikationen, die zweite die Arbeitslogik ihrer Tätigkeit. Die (1) interpersonelle Arbeitslogik prägt Dienstleistungs- und Sozialberufe, die (2) technische Arbeitslogik die Arbeit technischer Fachleute oder Handwerker, während Manager oder Sekretärinnen im Sinne der (3) administrativen Arbeitslogik betriebliche Macht verwalten (60-61). Die acht Klassen, die Oesch so für Deutschland und die Schweiz erhält, lassen sich auch anhand anderer Kriterien voneinander abzugrenzen. Die Unterschiede im Einkommen sind z.B. so verteilt, wie man es erwarten könnte, die Klasse der Unternehmer und freien Berufe realisiert in beiden Ländern die höchsten Einkommen. Bei der Unterstützung rechter Parteien ergeben sich dann aber interessante Unterschiede.

Statt bei der Position in der Arbeitsorgaisation setzen Willi Eberle und Hans Schäppi (S. 75-83) zuerst beim Vermögen an. Ihr erstes einfaches Klassenschema teilt Personen in drei „Klassen“ ein, je nachdem wieviel Vermögen sie versteuern. Die Autoren zeigen anhand von Daten des Bundes, dass das Vermögen pro Kopf bei der reichsten dieser Gruppen zwischen 1991 und 2003 zugenommen, bei der ärmsten dagegen abgenommen hat. Mit weiteren Zahlen zu Löhnen und Arbeitsproduktivität stützen die Autoren ihre zentrale These: ökonomische Ungleichheit hat entlang in der Schweiz der Klassengrenzen zugenommen. Die Gründe dafür suchen sie bei der Position der Schweiz als sekundärer Nutzniesser des Imperialismus und bei innenpolitischen Konstellationen.

Der Beitrag von Klaus Dörre (S. 19-29) zielt auf eine Frage, die auch Eberle und Schäppi bereits streifen: Was verbindet die Menschen, die potenziell eine Klasse ausmachen (Interessen? Kultur? Geschichte?) und ist dies genug, um gemeinsames Handeln zu ermöglichen? Für Dörre ist die gemeinsame Erfahrung der Unsicherheit die Basis, auf der Klassenbewusstsein und politisches Handeln sich, trotz der Zersplitterung der Gesellschaft in zahlreiche Abstufungen der Armut und der Unsicherheit, stützen könnten. Wieso Unsicherheitserfahrungen das Überwinden anderer Unterschiede ermöglichen sollen, führt Dörre allerdings kaum aus. Welche Unsicherheit ist genau gemeint? Und sind nicht viele unabhängig von der Klassenposition einer wachsenden Unsicherheit ausgesetzt?

Eine systematische Übersicht über die Diskussion zu Ungleichheit und gesellschaftlichen Strukturen bietet der WIDERSPRUCH 52 nicht. Die kurzen Artikel geben aber Schlaglichter auf Probleme und Themen, die gut als Inspiration für eine weitere theoretische Beschäftigung mit Klasse dienen können. Die Daten und Argumente zur Ungleicheit in der Schweiz könnten dagegen auch zu politischer Aktivität ermuntern.

WIDERSPRUCH 52: Ungleichheit, Ausgrenzung und soziale Gerechtigkeit, 27.Jg./ 1. Halbjahr.
Im Buchhandel oder bei WIDERSPRUCH, Postfach, CH- 8026 Zürich, Tel./Fax 00 41 (0)44 273 03 02, redaktion@widerspruch.ch


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